In Deutschland beträgt die Prävalenz von chronischen Erkrankungen bei 0- bis 17-Jährigen etwa 16% (Neuhauser 2014). Demnach leben ca. 2,2 Millionen Minderjährige in Deutschland, die an einer chronischen Erkrankung leiden. Für Kinder, die an einer chronischen Krankheit oder Behinderung leiden, besteht laut internationalen Studien ein etwa dreifach erhöhtes Risiko Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung zu werden (Verdugo 1995, Brown 1998, Sullivan 2000, Jaudes 2008, Svensson 2011, Hendricks 2014, Bizzego 2020, Bizzego A 2020). Darüber hinaus erhöht das Vorliegen einer chronischen Erkrankung die Zahl der Möglichkeiten, für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung. So kann bspw. fehlende Krankheitseinsicht eine Kindeswohlgefährdung darstellen, wenn diese dazu führt, dass der Therapieplan nicht befolgt wird und somit die Gesundheit des Kindes und seine Entwicklungsmöglichkeiten gefährdet werden. Gleichzeitig erhöht jede Kindesmisshandlung und ‑vernachlässigung das Risiko chronisch zu erkranken (Felitti 1998, Sonu 2019). Familien chronisch kranker Kinder stehen vor besonderen Herausforderungen und in vielen Fällen unter zusätzlicher Belastung (Ohlbrecht 2006). Überschreitet diese Belastung die Ressourcen (Jaudes 2008) der Familie kann es zu Vernachlässigung oder Misshandlung kommen(Legano 2021). Somit ist die Wahrscheinlichkeit, dass Familien chronisch kranker Kinder neben der medizinischen Anbindung Kontakt zur Kinder- und Jugendhilfe haben erhöht und stellt diese ebenso wie das Familiensystem vor besondere Herausforderungen.
Die Zusammenarbeit von Medizin und Kinder- und Jugendhilfe gestaltet sich aus verschiedenen Gründen häufig sehr komplex. Unbekannte Strukturen erschweren es Ansprechpartner:innen im jeweils anderen Bereich zu finden und mangelndes Wissen über die Arbeit des jeweils anderen Bereiches steht dem gegenseitigen Verständnis im Weg (vgl. 1.5). Dabei ist eine frühzeitige Zusammenarbeit der beiden Bereiche im Falle von chronischer Krankheit besonders wichtig. Bestenfalls beginnt die „Tandem“-Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe und Medizin schon bei Geburt eines chronisch kranken Kindes und erstreckt sich standardmäßig über den Zeitraum des Heranwachsens. Das Leitbild der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Kinder- und Jugendhilfe bildet die gemeinsame, niedrigschwellige und frühzeitige Unterstützung der betroffenen Familien um Probleme, die später zu einer Kindeswohlgefährdung führen könnten im Vorfeld gemeinsam zu lösen. Mit Stigmata der jeweiligen Institutionen gilt es im Sinne einer vertrauensvollen Zusammenarbeit aufzuräumen. Die Zusammenarbeit mit dem ASD sollte als Standard in der ressourcenorientierten Unterstützung von allen betroffenen Familien mit chronisch kranken Kindern gelten und nicht als „Drohung“ für die Fälle angesehen werden, in denen es zu einer Kindeswohlgefährdung kam und dadurch Interventionsbedarf besteht.
Der vorliegende Leitfaden soll als Hilfestellung für die interdisziplinäre Fallarbeit dienen. Der Leitfaden setzt sich aus vier Kapiteln zusammen, die je nach Bedarf auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Einleitend werden im ersten Kapitel die Standards aufgezeigt nach denen sich sowohl die Medizin als auch die Kinder- und Jugendhilfe in der Fallarbeit mit chronisch kranken Kindern richten soll (vgl. 1. „Standards im Umgang mit chronisch kranken Kindern). Um das konkrete Vorgehen bei Fallaufnahme eines chronisch kranken Kindes zu veranschaulichen wird dieses anhand von Flowcharts dargestellt (vgl. 1.1.2). Das zweite Kapitel bietet einen Überblick über die Hilfe- und Unterstützungssysteme und ihre rechtlichen Rahmenbedingungen (vgl. 2 „Leistungen und Schnittstellen der Sozialgesetzbücher“). Im dritten Kapitel werden die wichtigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter inklusive ihrer Therapien und Gefahren bei Nichteinhaltung derselben dargestellt. Daran anschließend werden im vierten Kapitel anhand eines Adressverzeichnisses Ansprechpartner im medizinischen Bereich für die jeweiligen Erkrankungen benannt.
Definition chronische Erkrankung im Kindesalter
Es existieren verschiedene Definitionen, eine einheitliche deutsche Definition liegt nicht vor. Zur Veranschaulichung der Heterogenität stellen wir im Folgenden drei verschiedene Definitionen chronischer Krankheit vor. Bei der Erstellung des vorliegenden Leitfadens wurde folgende Definition zu Grunde gelegt: Chronische Krankheit bezieht sich auf alle körperlichen Störungen, sie seit mehr als sechs Monaten bestehen oder mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern werden, spezifische Belastungen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zur Folge haben und einen erhöhten Bedarf an medizinischer Versorgung aufweisen. Weitestgehend ausgeschlossen wurden hier Funktionseinschränkungen, die auf eine psychische oder soziale Störung zurückzuführen sind.
Definition chronische Erkrankung im Kindesalter
- Als chronische Krankheit wird eine physische, psychische oder soziale Funktionseinschränkung bezeichnet, die mindestens ein Jahr vorliegt und mindestens eine Folgebelastung nach sich zieht, wie:
- Funktionelle Einschränkung der Rollen und Aktivität
- Notwendigkeit von kompensatorischen Maßnahmen
- Erhöhter Bedarf an medizinisch-psychologischer Versorgung
(Stein 1993)
- Eine Krankheit wird als chronisches Leiden im Kindesalter betrachtet, wenn:
- sie bei Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren auftritt
- die Diagnose auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht und mit reproduzierbaren und validen Methoden oder Instrumenten nach professionellen Standards gestellt werden kann,
- sie (noch) nicht heilbar oder, bei psychischen Erkrankungen, in hohem Maße behandlungsresistent ist, und
- sie seit mehr als drei Monaten besteht oder mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als drei Monate andauern wird, oder sie im vergangenen Jahr dreimal oder öfter aufgetreten ist und wahrscheinlich wieder auftreten wird (Mokking 2008).
- Chronische Gesundheitsstörungen sind nach der Definition im deutschen Sozialrecht Krankheiten mit einer Dauer von mehr als 6 Monaten. Von Behinderung wird gesprochen, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 SGB IX). Die Unterscheidung zwischen „chronischer Krankheit“ und „Behinderung“ ist demnach unscharf, deshalb werden zunehmend beide Begriffe durch den gemeinsamen Oberbegriff „chronische Gesundheitsstörung“ ersetzt (Brockmann 2020).