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Einleitung
In Deutschland beträgt die Prävalenz von chronischen Erkrankungen bei 0- bis 17-Jährigen etwa 16% [4]. Demnach leben ca. 2,2 Millionen Minderjährige in Deutschland, die an einer chronischen Erkrankung leiden. Für Kinder, die an einer chronischen Krankheit oder Behinderung leiden, besteht laut internationalen Studien ein bis zu dreifach erhöhtes Risiko Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung zu werden [5-12].
Familien chronisch kranker Kinder stehen vor besonderen Herausforderungen und in vielen Fällen unter zusätzlicher Belastung [13]. Überschreitet die Belastung die Ressourcen der Familie kann es zu Vernachlässigung oder Misshandlung kommen [5, 14]. Somit ist die Wahrscheinlichkeit, dass Familien chronisch kranker Kinder neben der medizinischen Anbindung Kontakt zur Kinder- und Jugendhilfe haben erhöht und stellt diese ebenso wie das Familiensystem vor besondere Herausforderungen. Ein weiterer Punkt verdient in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit: Es ist mittlerweile wiederholt belegt worden, dass Kindesmisshandlung und ‑vernachlässigung durch Anpassungen im Hormonhaushalt und (epi-) genetische Modifikationen das Risiko chronisch zu erkranken [15, 16].
Die Zusammenarbeit von Medizin und Kinder- und Jugendhilfe gestaltet sich aus verschiedenen Gründen häufig komplex. Unbekannte Strukturen erschweren es Ansprechpartner:innen im jeweils anderen Bereich zu finden und mangelndes Wissen über die Arbeit des anderen Bereiches kann dem gegenseitigen Verständnis im Weg stehen. Dabei ist eine frühzeitige Zusammenarbeit der beiden Bereiche im Falle von chronischer Krankheit besonders wichtig. Bestenfalls beginnt eine „Tandem“-Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe und Medizin bei Unterstützungsbedarf schon bei Diagnosestellung eines chronisch kranken Kindes und erstreckt sich dann über den Zeitraum des Heranwachsens. Das Leitbild der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Kinder- und Jugendhilfe bildet die gemeinsame, niedrigschwellige und frühzeitige Unterstützung der betroffenen Familien um Probleme, die später zu einer Kindeswohlgefährdung führen könnten im Vorfeld gemeinsam zu lösen. Die Zusammenarbeit mit dem ASD sollte als Standard in der ressourcenorientierten Unterstützung von allen betroffenen Familien mit chronisch kranken Kindern gelten und nicht als „Drohung“ für die Fälle angesehen werden, in denen es zu einer Kindeswohlgefährdung kam und dadurch Interventionsbedarf besteht.
Bemerkung: In diesem Dokument werden die zur Zielgruppe gehörenden Kinder und Jugendlichen in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch internationaler Abkommen einheitlich als „Kinder“ bezeichnet.
Definition chronische Erkrankung im Kindesalter
Es existieren verschiedene Definitionen, eine einheitliche deutsche Definition liegt nicht vor. Zur Veranschaulichung der Heterogenität stellen wir im Folgenden verschiedene Definitionen chronischer Krankheit vor. Bei der Erstellung des vorliegenden Leitfadens wurde folgende Definition zu Grunde gelegt: Chronische Krankheit bezieht sich auf alle körperlichen Störungen, die seit mehr als sechs Monaten bestehen oder mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern werden, spezifische Belastungen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zur Folge haben und einen erhöhten Bedarf an medizinischer Versorgung aufweisen. Weitestgehend ausgeschlossen wurden hier Funktionseinschränkungen, die auf eine psychische oder soziale Störung zurückzuführen sind. Für den vorliegenden Leitfaden wurde diese Definition in einem multidisziplinären Prozess entwickelt. Sie reflektiert sowohl die rechtlichen Rahmenbedingungen als auch die medizinisch relevanten Kriterien und psychosozialen Faktoren.
Definition chronische Erkrankung im Kindesalter
Aufgrund der Heterogenität der Definitionen zu chronischer Krankheit und dem fehlenden Konsens bzgl. einer einheitlichen Definition, werden im Folgenden beispielhaft drei weitere mögliche Definitionen dargestellt.
- Als chronische Krankheit wird eine physische, psychische oder soziale Funktionseinschränkung bezeichnet, die mindestens ein Jahr vorliegt und mindestens eine Folgebelastung nach sich zieht, wie:
- funktionelle Einschränkung der Rollen und Aktivität
- Notwendigkeit von kompensatorischen Maßnahmen
- erhöhter Bedarf an medizinisch-psychologischer Versorgung [1]
- Eine Krankheit wird als chronisches Leiden im Kindesalter betrachtet, wenn:
- sie bei Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren auftritt
- die Diagnose auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht und mit reproduzierbaren und validen Methoden oder Instrumenten nach professionellen Standards gestellt werden kann,
- sie (noch) nicht heilbar oder, bei psychischen Erkrankungen, in hohem Maße behandlungsresistent ist, und
- sie seit mehr als drei Monaten besteht oder mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als drei Monate andauern wird, oder sie im vergangenen Jahr dreimal oder öfter aufgetreten ist und wahrscheinlich wieder auftreten wird. [2]
- Chronische Gesundheitsstörungen sind nach der Definition im deutschen Sozialrecht Krankheiten mit einer Dauer von mehr als 6 Monaten. Von Behinderung wird gesprochen, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 SGB IX). Die Unterscheidung zwischen „chronischer Krankheit“ und „Behinderung“ ist demnach unscharf, deshalb werden zunehmend beide Begriffe durch den gemeinsamen Oberbegriff „chronische Gesundheitsstörung“ ersetzt. [3]
Standards im Umgang mit chronisch kranken Kindern
Eine chronische Erkrankung kann auf vielfältige Weise zu einer Kindeswohlgefährdung führen. Im Folgenden werden die Möglichkeiten aufgezeigt und in den rechtlichen Kontext eingeordnet:
Nach § 1666 – Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls – Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) liegt eine Kindeswohlgefährdung im Kontext einer chronischen Erkrankung vor, wenn Eltern die zur Minderung oder Heilung der Erkrankung notwendigen medizinischen und sozialen Unterstützungsleistungen nicht im ausreichenden Umfang ausführen. Dies kann durch bewusstes Unterlassen oder durch Unvermögen der Eltern begründet sein. Unvermögen kann aus fehlendem Krankheitsverständnis oder –einsicht und aus geistiger, körperlicher oder finanzieller Überforderung resultieren. Aber auch Faktoren auf Seite des Kindes, bspw. Verweigerung der Mitarbeit kann bei mangelnder Durchsetzungsfähigkeit der Eltern zu einem Ausbleiben der notwendigen Therapiemaßnahmen führen. Aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe kann die Gefährdungseinschätzung in einer Familie mit chronisch krankem Kind erheblich erschwert sein. Maßstab für die Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung ist dabei die erwartete weitere Schädigung, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, die bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes oder seines Vermögens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt [17, 18].
Fehlende Therapieadhärenz kann eine Kindeswohlgefährdung darstellen.
§ 1666 Abs. 1 und 2 BGB
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.
Bemerkung: Der Begriff Eltern bezieht sich im Rahmen des Leitfadens nicht nur auf die biologischen Eltern, sondern soll andere Familien- und Erziehungskonzepte mitdenken und reflektieren. Elternfiguren können demnach andere Sorgeberechtigte und anderweitig verantwortliche Personen sein.
Gefährdungseinschätzung
Ab wann Schwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten als Kindeswohlgefährdung beurteilt werden müssen, lässt sich nicht generell beantworten. In jedem Fall chronischer Erkrankung sollte daher, unabhängig davon ob das Kind sich zum gegebenen Zeitpunkt im Gesundheitssystem oder dem System der Jugendhilfe befindet, ein Unterstützungsbedarf evaluiert werden. Dabei helfen die u.g. Leitfragen. Ergeben sich Anzeichen von Vernachlässigung (der medizinischen Sorge) oder Hinweise auf körperliche, psychische oder sexualisierte Gewalt, sollte eine sorgfältige Gefährdungseinschätzung erfolgen.
Im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung bei einer Familie mit chronisch krankem Kind ist es fachlicher Standard immer mit eine:r Ärzt:in Rücksprache zu halten.
Der Schutzauftrag der Medizin ist in seinem Ablauf im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) § 4 normiert. Für die Kinder- und Jugendhilfe sind die Vorgaben im § 8a Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) festgelegt.
§ 4 Abs. 4 KKG
Wird das Jugendamt von einer in Absatz 1 genannten Person informiert, soll es dieser Person zeitnah eine Rückmeldung geben, ob es die gewichtigen Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls des Kindes oder Jugendlichen bestätigt sieht und ob es zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen tätig geworden ist und noch tätig ist. Hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird.
Die Gefährdungseinschätzung kann je nach Setting unterschiedlich ablaufen, sollte bei vorliegenden gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung aber immer eine Kooperation zwischen Medizin und Kinder- und Jugendhilfe beinhalten. Folgende Punkte sollten berücksichtigt werden:
Ausgangspunkt des Tätigwerdens des Jugendamtes bilden nach § 8a SGB VIII gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung. Für den medizinischen Kinderschutz ist die Befugnis, trotz Schweigepflicht tätig zu werden, in § 4 KKG des Kinderschutzgesetzes geregelt. Wie auch im § 8a ist auch im § 4 KKG der unbestimmte Rechtsbegriff der gewichtigen Anhaltspunkte zentraler Auslöser für weiteres Handeln.
Medizin: Zentral ist die Bewertung vorliegender gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung nach § 4 KKG.
§ 4 Abs. 1 KKG
Werden:
- Ärztinnen oder Ärzten, Zahnärztinnen oder Zahnärzten Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
- Berufspsychologinnen oder ‑psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung,
- Ehe‑, Familien‑, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder ‑beratern sowie
- Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist,
- Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes,
- staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder ‑arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder ‑pädagogen oder
- Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
Gewichtige Anhaltspunkte liegen vor, wenn es konkrete Hinweise oder ernstzunehmende Vermutungen für eine Gefährdung des Kindeswohls gibt. Aus Sicht der Medizin sind sie Grundlage der Befugnis, das Jugendamt über Fälle von vermuteter Misshandlung oder Vernachlässigung zu informieren und müssen daher sorgfältig abgeklärt werden. Sind Maßnahmen aus dem Medizinsystem selbst nicht geeignet oder ausreichend um der Gefährdung zu begegnen, greift die Befugnisnorm aus § 4 KKG und die Geheimnisträger:innen aus dem Gesundheitssystem dürfen unter bestimmten Bedingungen Informationen an das Jugendamt übermitteln.
Gewichtige Anhaltspunkte können aus medizinischer Sicht u. a. sein:
- körperliche misshandlungsverdächtige Verletzungen (z. B. auffällige Knochenbrüche, Verbrennungen unklarer Ursache, bestimmte Verletzungen ohne passende Entstehungsgeschichte)
- auffälliges, altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten oder suspekte genitale Untersuchungsbefunde
- Bericht des Kindes oder Dritter von Misshandlung
- akute Phase einer Suchterkrankung oder psychischen Erkrankung einsoder beider Elternteile
- wiederholtes Auftreten des Verdachtes für schädigende Bedingungen
- wenn aufgrund der problematischen Bedingungen eine Schädigung des Kindes in seiner Entwicklung absehbar oder bereits eingetreten ist
Im Falle eines chronisch kranken Kindes kommen folgende gewichtige Anhaltspunkte hinzu, insbesondere wenn eine Schädigung aus dem genannten Verhalten entstanden ist oder wahrscheinlich entstehen wird:
- wiederholt versäumte Arzt- und Therapietermine
- mangelndes Befolgen des abgesprochenen Therapieplanes (= mangelnde Adhärenz)
- fehlendes Krankheitsverständnis trotz wiederholter Erklärungen (mit Dolmetscher:in)
- fehlende Krankheitseinsicht und daraus folgend Ablehnung der Behandlung
- unerklärliche Symptomverschlechterung, die sehr wahrscheinlich mit mangelnder Adhärenz im Zusammenhang steht
Die Medizinische Kinderschutzleitlinie betont hierzu: „Fachkräfte sollen bei jedem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung sowohl den Alters- und Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen als auch die Kontextfaktoren berücksichtigen. Kenntnisse zur Identifizierung von Anhaltspunkten einer Kindeswohlgefährdung sind genauso unerlässlich wie die Kenntnis über den gesetzlich geregelten Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung sowie die Beratung von Personensorgeberechtigten, Kindern und Jugendlichen bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Gefährdung und auch die gesetzliche Befugnis zur Weitergabe von geschützten Informationen nach Interessenabwägung an das Jugendamt bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung“ [19].
Zur tiefergehenden Diskussion zum Thema gewichtige Anhaltspunkte aus Sicht der Medizin verweisen wird auf die weiterführende Literatur: [20, 21].
Von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe gilt es, den mitteilenden Personen die Strukturen und Abläufe zu erläutern, sowie Rückmeldungen über die Gefährdungseinschätzung und die Hilfeplanung zu geben (§ 4 Abs. 4 KKG). Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sollten zunächst davon ausgehen, dass die medizinischen Fachkräfte das Vorgehen der Kinder- und Jugendhilfe nicht gut kennen und Unsicherheiten bzgl. der rechtlichen Rahmenbedingungen bestehen.
Grundsätzlich sollte die Kinder- und Jugendhilfe in allen Fallkonstellationen bei Bekanntwerden einer chronischen Erkrankung oder Behinderung eines Kindes oder Jugendlichen ein:e Ärzt:in konsultieren, um mit entsprechender medizinsicher Fachexpertise mögliche Einflussfaktoren für die Erkrankung sowie eventuellen Handlungsbedarf zu eruieren. Gemäß § 8a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII ist dieses Vorgehen fachlicher Standard im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung. Dies gilt auch dann, wenn die chronische Erkrankung dem Jugendhilfesystem während einer Gefährdungseinschätzung oder anderer Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bekannt wird.
§ 8a Abs. 1 SGB VIII
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. Soweit der wirksame Schutz dieses Kindes oder dieses Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist,
- sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen sowie
- Personen, die gemäß § 4 Absatz 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz dem Jugendamt Daten übermittelt haben, in geeigneter Weise an der Gefährdungseinschätzung zu beteiligen.
Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Erziehungsberechtigten anzubieten.
Durch frühzeitige Kontaktaufnahme zwischen den Jugendämtern und dem Gesundheitswesen können durch o.g. Vorgehen Fallverläufe optimiert und Ressourcen eingespart werden. Die Nutzung der bereits gesammelten Informationen der jeweils anderen Institution spart Zeit und kann ein tieferes Fallverständnis liefern. So werden bspw. im Medizinsystem tiefe Einblicke in die Interaktion und in die Belastungen und Sorgen der Familien gewonnen. Das Jugendhilfesystem wiederum hat die Möglichkeit gewichtige Anhaltspunkte in der Wohnumgebung und in Kooperation mit Betreuungseinrichtungen und Schule die Hilfebedarfe der Familie vertiefend zu untersuchen. Die gemeinsame Gefährdungseinschätzung ist daher aus gutem Grund gesetzlicher und fachlicher Standard.
Leitfragen für medizinische Fachkräfte
Um die Gefährdung eines chronisch kranken Kindes und damit eine mögliche Kindeswohlgefährdung besser beurteilen zu können hat die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) Leitfragen formuliert, die
- klären sollen, ob eine Verschlechterung bzw. Zunahme von Symptomen oder eine Häufung von Krankheitsepisoden vorliegt, die (potentiell) bedrohlich waren und außerdem
- beleuchten, ob die Zustände und Schädigungen durch eine leitliniengerecht durchgeführte Therapie hätten vermieden werden können.
Die Leitfragen, die hier leicht modifizierter Form wiedergegeben werden, beziehen sich speziell auf die Gefährdungseinschätzung chronisch kranker Kinder durch medizinische Fachkräfte und können als ergänzende Hilfestellung zu den im folgenden Kapitel abgebildeten Flow-Charts genutzt werden. Für weiterführende Informationen zur Gefährdungseinschätzung durch Fachkräfte des Gesundheitswesens wird auf die AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie verwiesen.
Die Adhärenz, also die Einhaltung von vereinbarten medizinischen Maßnahmen, Therapien und Absprachen ist ein zentraler Punkt bei Kindeswohlgefährdung chronisch kranker Kinder und wird im folgenden Abschnitt (Ursachen) ausführlich erläutert.
I. Diagnose
Welche Erkrankung bzw. Diagnose liegt vor? (lebenslimitierend, lebensbedrohlich, irreversibel/reversibel, …)
- Hinterfragen, inwieweit und wie häufig die Erkrankung ist. WurdenVerlauf und Versorgungsmöglichkeiten den Eltern/Kind erklärt,von diesen verstanden und gemeinsam abgestimmt?
- Gibt es Hinweise für eine mangelhafte Adhärenz, wie z.B. Wahrnehmen von Arztterminen oder Ablehnung von Therapiekonzepten, die möglichen Schädigungen vorbeugenkönnten.
- Welche Gründe sind für eine mangelnde Adhärenz bekannt?
II. Behandlungs- und Therapiekonzept
Existiert ein (leitliniengerechtes) Behandlungs- und Therapiekonzept? Welche Therapiebausteine gehören dazu und was sollte bewirkt werden? Welcher Arzt ist für das Kind zuständig? Wer ist sonst noch beteiligt?
- Lässt sich eine Ursache finden, die zu einer Schädigung oder Verschlechterung des Zustandes des Kindes geführt hat?
- Reflexion innerhalb der Helfersysteme: Das Hinterfragen der eigenen Systeme und möglicher Versäumnisse ist obligat.
- Hinterfragen, inwieweit Eltern/Kind einbezogen wurden/werden.
- Erfolgte eine Beratung durch ein multidisziplinäres Team, dass neben der medizinischen Sichtweise die psychosoziale undkulturelle Sichtweise berücksichtigt?
- Wie lässt sich dies den örtlichen Gegebenheiten umsetzten?
Die primäre Abstimmung innerhalb des Medizinsystems in Bezug auf die jeweilige Erkrankung des Kindes ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Behandlungs- und Therapiekonzeptes.
III. Krankheitsbedingte Aspekte
Auflistung von Aspekten, die die gesundheitliche Gefährdung des Kindes beschreiben wie z.B. Verschlechterung der Stoffwechsellage, fehlende Gewichtszunahme…
IV. Krankheitsunabhängige Aspekte
Hinterfragen weiterer Belastungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Isolation, Ursachen familiärer Konflikte, …) und weiterer sozialer Determinanten von Gesundheit (siehe Glossar)
V. Einschätzung zur mangelhaften Adhärenz
Folgende Fragen zur Einschätzung von Kompetenz und Non- /Maladhärenz von Eltern und Kind sollten gestellt werden:
- Worin besteht die mangelhafte Adhärenz des Kindes/Jugendlichen?
- Gibt es bekannte Ursachen für die mangelhafte Adhärenz?
- Wurden Eltern und ggf. das Kind an der Erstellung des Behandlungskonzeptes beteiligt?
- Wie gut waren Eltern bzgl. der Notwendigkeit der Umsetzung des Therapiekonzeptes und der daraus entstehenden Folgeschäden informiert? Wie häufig wurden die Eltern bereits aufgeklärt?
- Wie viele (schwerwiegende oder lebensbedrohliche) Krankheitsepisoden sind bereits bekannt?
- Welche Hilfestellungen und Unterstützungsmaßnahmen wurden bereits angeboten und umgesetzt?
- Welche Gründe werden von den Eltern angeführt, warum eine Therapie nicht umgesetzt wurde oder umgesetzt werden konnte? Wie lassen sich diese Gründe mit dem Wohl des Kindes in Einklang bringen?
VI. Einschätzung der Gefährdung
Durch Beantwortung der Leitfragen kann die Wahrscheinlichkeit einer Kindeswohlgefährdung besser abgeschätzt werden. Die dementsprechend einzuleitenden weiteren Schritte sind im folgenden Schaubild dargestellt.
„Natürlicher“ Krankheitsverlauf bei laufendendem Therapiekonzept bzw. bestehender Versorgung:
Keine Gefährdung in Bezug auf den Krankheitsverlauf
- Aufstellen eines Therapiekonzeptes unter Einbezug Eltern/Kind
- ggf. Neuabstimmung Helfersystem mit Eltern/Kind
Mangelhaftes Therapiekonzept:
Mögliche Gefährdung
- Aufstellen eines Therapiekonzeptes unter Einbezug Eltern/Kind
- Anbindung an das Gesundheitswesen ist obligat
- ggf. Einbindung weiterer Hilfesysteme (z. B. Jugendamt, Pflegedienst, Psychotherapie)
- ggf. Initiierung einer ambulanten Psychotherapie
Mangelhafte (bewusste/unbewusste) Umsetzung des Therapiekonzeptes:
Wahrscheinliche Gefährdung des Kindes
- Aufstellen eines Therapiekonzeptes unter Einbezug Eltern/Kind
- Anbindung an das Gesundheitswesen und weiterer Hilfesysteme ist obligat
- Einbindung des Jugendamts ist obligat
- medizinische Prognose darstellen
- Schwere des zu erwartenden Schadens darstellen und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts benennen
- Einschätzung von Kompetenz und Ursachen von Non-/Maladhärenz der Eltern und des Kindes/Jugendlichen
Empfehlung des vorliegenden Leitfadens
Wird im o. g. Screening im Abschnitt IV: „Einschätzung der Gefährdung“ der gelbe oder rote Bereich erreicht, sollte entsprechend der Flowcharts vorgegangen werden.
Flowcharts: Ablauf Gefährdungseinschätzung
Flowchart A: Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung (KWG) in der Medizin (Vorgehen nach § 4 KKG in Kooperation mit der Jugendhilfe)

Flowchart B: Gewichtige Anhaltspunkte für eine KWG in der Jugendhilfe (Vorgehen nach § 8a SGB VIII in Kooperation mit der Medizin)
